Schülergruppe des GSP in Vinni – Wiederaufnahme des Austauschprojektes
Impressionen von einer Reise, 2.-8. Mai 2023
Ein Bericht von Lydia Rudow & Detlev Kraack
Viele klassische Reiseziele buhlen aufdringlicher um die Gunst mitteleuropäischer Touristen als Estland. Dabei hat das kleine Land im Nordosten unseres Kontinentes so einiges zu bieten, was man andernorts vergeblich sucht. So wissen Gruppen aus Plön die Gastfreundschaft unserer Partner im Gymnasium von Vinni südlich von Rakvere im zentrealen Estland seit über dreißig Jahren zu schätzen. Zudem locken eine abwechslungsreiche Natur mit viel Wald und Moor, mit ungezähmten Flüssen und einer wilden Ostseeküste zu Spaziergängen und Erkundungen. Entsprechendes gilt für eine vielfältige Flora und Fauna und eine im Spannungsfeld zunächst dänischer und schwedischer, sodann russischer und deutschbaltischer Interessen agierende estnische Bevölkerung. Dass es die Estinnen und Esten 1990 schafften, ihre Freiheit und Unabhängig von einer auch als solcher Empfundenen sowjetischen bzw. russische Bevormundung und Unterdrückung zu erlangen, macht diese kleine, sangesfreudig beschwingte und naturbegeistere Volk auf eine ungemein sympathische Art und Weise stolz auf seine Geschichte und Kultur. In der Tat haben diese Menschen, die bereits nach dem Ersten Weltkrieg eine längere Phase nationaler Unabhängigkeit durchlebt hatten, in einer weitestgehend friedlichen Revolution die Befreiung vom sowjetischen Joch erstritten, was sie derzeit unendlich solidarisch an die Seite ihrer ukrainischen Brüder und Schwestern treten lässt. Das ist im Lande allerorten mit Händen zu greifen: Lehrer fahren Hilfstransporte, Menschen geben gerne und großzügig, und das ganze Land ist nicht nur in den Landesfarben weiß, blau und schwarz, sondern auch in blau und gelb geschmückt.
Die Plöner Austauschgruppe, die neben uns Lehrern 16 Schülerinnen und Schüler der 11. Jahrgangsstufe umfasste, ist mit dem Flugzeug jeweils via Frankfurt nach Tallinn und zurück geflogen, wobei unsere Austauschpartner den Transport zwischen dem Flughafen und dem von der Hauptstadt gut 100 km entfernten Schulort übernahmen, uns im Hostel in ihrem Sportkomplex – mit Sauna, Schwimmbad und Gym – unterbrachten und uns darüber hinaus auch an den folgenden Tagen manch hilfreichen Chauffeurdienst erwiesen. So brachen wir von Vinni aus zur Erkundung von Burg und Stadt Rakvere aufgebrochen und nahmen nur einen Tag später die Herausforderungen des Kletterparks in Kunda an und erkundeten von dort aus auch noch die alte Ordensburg Ruine von Toolse direkt an der Ostsee. Dass wir dort auf gut getarnte Soldaten der estnischen Heimatverteidigung stießen und später noch wiederholt auf Soldaten trafen, die sich an einer Militärübung zur Landesverteidigung beteiligten, die unter dem Titel „spring storm“ durchgeführt wurde, erdete unsere Ausflüge in die Geschichte in der Gegenwart. Weit gefährlicher und nicht minder ungewöhnlich war es, dass wir bereits auf der Hintour nach Vinni in ein Sandsturm gerieten, der sich aus der ausgetrockneten Ackerfurche kurz vor Rakvere entwickelte. Nach einigen Tagen in Vinni, während derer wir unter anderem auch die Schule in Vinni besuchten und uns dem Direktor Henry vorstellten, eine Runde des schuleigenen Diskgolfparcours durchliefen und uns an einem Driftcartrennen beteiligten, ging es fürs Wochenende in den Süden des Landes. Über die altehrwürdige Universitätsstadt Tartu (deutsch Dorpat; 2024 europäische Kulturhauptstadt), wo die Schweden 1632 – mitten im Dreißigjährigen Krieg – die älteste Universität des Baltikums eingerichtet hatten, der ein russischer Zar dann knapp 200 Jahre später ein prächtiges neues Universitätsgebäude mit einer ungemein stimmungsvollen Festaula geschenkt hatte, ging es weiter nach Valga, einer Kleinstadt an der lettisch-estnischen Grenze. Dort waren wir in einem doch recht spartanisch eingerichteten „Hostel“ untergebracht, das wie das benachbarte Museum zur estnischen Geschichte und Landesverteidigung dazu diente, Jugendgruppen die Übernachtung zu ermöglichen und ihnen über die beigebrachten Exponate des Hauses ein Gefühl dafür zu entwickeln, was für einen hohen Stellenwert Freiheit und nationale Selbstbestimmtheit den Estinnen und Esten bedeuten. Insbesondere ein nachgebauter „Bunker“ der sogenannten „Waldbrüder“, die als Partisanen von 1944 bis in die 1970er Jahre hinein Widerstand gegen die sowjetische Besatzung des Landes geleistet hatten, beeindruckte uns sehr.
Nachdem wir noch am selben Tag den Ort und insbesondere die – gemäß dem Vertrag von Schengen – sehr unspektakuläre estnisch-lettische Grenze erkundet hatten, ließen wir uns am folgenden Tag von einer sehr kompetenten jungen Mitarbeiterin durch die Dauerausstellung zur estnischen Geschichte führen und auf diese Weise einen vertieften Zugang zur dieser Geschichte gewinnen. Wie eng diese Geschichte nicht nur mit der Geschichte der Nachbarstaaten verbunden ist, erfuhren wir tags darauf auch außerhalb der Museumseinrichtungen auf einem typisch ostmitteleuropäischen Markt, der gegen einen Obolus für das ukrainische Volk kulinarische Köstlichkeiten und traditionelle Volkskunst aus den unterschiedlichsten Regionen in nah und fern bot.
Leider ging es dann am Folgenden Tag schon wieder weiter, zunächst über die sanften Hügel Südestlands zu einem hölzernen Aussichtsturm, später ans Ufer des Peipussees, zu einem weithin berühmten russischen Frauenkloster, dessen Gründung Ende des 19. Jahrhunderts eher ein Akt der politischen Einflussnahme im Sinne eine aktiven Russifizierung als ein Akt tief verinnerlichten christlichen Glaubens war. Eine Fahrt durch das Ölschieferfördergebiet von Kiviöli, das mit seinen gewaltigen Abraumhalden in Teilen einer Art Mondlandschaft glich, und ein Spaziergang am See von Sonda samt einem Abstecher ins nahe Moor, ließen uns einerseits die wirtschaftliche Realität des Landes mit Händen greifen und andererseits unsere naturbegeisterten Herzen höher schlagen. Zurück in Vinni bezogen wir wieder unsere Zimmer im Hostel des Sportkomplexes und nutzten auch den letzten Abend zu einem Besuch im hauseigenen Schwimmbad. Am nächsten Morgen ging es dann um 7 Uhr mit gepackten Koffern zum Frühstück. So konnten wir früh von Vinni aus aufbrechen, auf den Weg nach Tallinn noch den Jägala Wasserfall besuchen und im Anschluss daran noch einige Zeit in Tallinn verbringen. Dass am Ende beim Abschied am Flughafen Tränen flossen, spricht für sich und macht beim Gedanken an den Gegenbesuch unserer estnischen Freunde in Plön, der für den September diesen Jahres geplant ist, große Hoffnung auf eine erfolgreiche Fortsetzung der seit 1990 bestehenden deutsch-estnischen Partnerschaft zwischen den beiden Schulen in Plön und Vinni.