Rezension „Sehnsucht“

 Zerschmetterte Amor-Büsten

Begleitartikel zu „Sehnsucht“ von Michael Nentwig, Moira Stücker und Bo Boj Klupp

Über Jahre entwickelte das GSP einen seiner Hauptprogrammpunkte, das Schulmusical, weiter. Die jungen Talente scheuten sich nicht vor anspruchsvollen Original-Vorlagen und stets wachsenden Produktionen. „Gier“ setzte bereits neue Maßstäbe mit ausgelagertem Gesangsunterricht, einem alles in allem reibungslosen Team, beeindruckender Bühne und professioneller musikalischer Komposition. Hingegen lässt sich „Sehnsucht“ eigentlich nicht mehr als bloße Erweiterung von dem, was schon da war, verstehen. Es wurde ein Genrebruch vollzogen, denn hier haben wir es mit einem Schulmusical zu tun, das doch keines ist. Wie geschah das?

Kunst und Kunstschaffende

Es handelt von Sehnsucht nach einer Liebe, die es mit den Geistern der Vergangenheit aufnehmen soll, verpackt in einer Krimi-Story. Bei dem Musical-Poster fühlen wir uns an Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ erinnert, ein Gemälde, das schon in jedem Deutschunterricht zu Eichendorff, Novalis, Heine und Co. gezeigt wurde. Es ist Sinnbild für die Romantik schlechthin. Wir sollten hier nicht vergessen, dass Romantik ja nicht bloß aus schöngeistigem Kitsch und angeschwollenen Worten besteht, sondern aus den Abgründen im Menschen schöpft, die oft genau in und durch die Liebe ans Tageslicht gelangen. 

Nicht nur geht es um jene, die da über das Nebelmeer hinüberblicken, sondern gerade um das, was da lauert, wenn der Nebel sich lichtet und der Mond klar scheint. Im Musical ist das die Leiche der verstorbenen Herrin, die ihren albtraumhaften Schleier über das Anwesen legt und ebenso als Schattengestalt in einer Art Traumszene auftritt. Sie ist hiermit so gar nicht tot. Ganz im Gegenteil, sie übt ihre zerstörerische Lebhaftigkeit in jedem Schrei und Flüstern, jeder Träne und jedem Song aus. Die neue Ehefrau ohne Namen nun steht im argen Kampf gegen diese überlebensgroße Gestalt und wird darüber von der boshaften Haushälterin gepeinigt, ja denkt deshalb sogar an Selbstmord. „Sehnsucht“ bedeutet eigentlich aber eine Sehnsucht „jenseits der Nacht“, also jenseits der alten Gewohnheiten. Das heißt: Das Anwesen muss niederbrennen und so nehmen die Dinge ihren Lauf und tatsächlich obsiegt das Gute zum Schluss. Getragen wurde die bewegende Stimmung stets von einem pulsierenden Chor. Man könnte meinen, er war der Motor, der die Wellen im Nebelmeer in Gang versetzte.

Wenn das Publikum in diese passagenweise finstere Geschichte eingeführt wird, dann ist schnell klar: Die Musik ertönt in schönen Tönen, aber im Herz der Figuren ist es dunkel, ganz dunkel. Unersättlich spannungsgeladen füllt sich der Schauer durch die Detektivposition, in welche sich die Zuschauenden unweigerlich begeben, sobald der Tod der alten Hausherrin zum Mysterium einer neuen Untersuchung wird. Da ist es kein Wunder, dass Alfred Hitchcock den Stoff verfilmte.

Die Musical-Umsetzung nimmt sich diesem Psychodrama ernsthaft an, ohne an Komplexität und Reife einzubüßen. Darin liegt kristallklar der künstlerische Anspruch, dem Stoff gerecht zu werden und die Augen auf das „ganz Große“ zu richten. Diesen Anspruch durften die unzähligen talentierten KünstlerInnen an sechs Abenden in Schauspiel und Gesang voll auskosten.

Musik, Technik, Bühnenbild

Selbstverständlich wusste nicht nur die Handlung zu beeindrucken. Zum Sehen und zum Hören gab es allerlei; darunter eine mehrdimensionale und aufwendig gezimmerte Bühne, großräumige Choreographien, Licht- und Tontechnik waren aufwendiger denn je. Hier ließe sich über jedes Detail schwärmen, doch gewissermaßen war exakt ein Element die Summe der bahnbrechenden Ereignisse, nämlich die Szene, in der die „Neue“ eine Amor-Büste der Verstorbenen zerbersten lässt. Warum?

Die meisten Schulmusical-Teams würden sich wahrscheinlich die Haare wild durchfahren, wenn es darum ginge, für jedes der sechs Male inkl. Proben eine Keramikbüste einkaufen zu müssen. Das GSP nahm es diesmal wie für selbstverständlich, zu zeigen: Wenn die neue Hausherrin sich durchsetzen will, dann zerstört sie diese Büste. Und so wurde jedes Mal ein Scherbenhaufen zusammengefegt, jedes Mal ein Sinnbild für die Radikalität, die ergriffen wird, um den (bescheiden gesagt) noch kleinen Stars eine ganz große Bühne für ganz große Momente zu bieten. Mögliches wurde ausgeschöpft und Dinge der Unmöglichkeit ermöglicht.

Resümee

Allem Anschein nach geht „Sehnsucht“ demnach als alleinstehende, außergewöhnliche Leistung in die Musical-Geschichte des GSP ein, denn es hat nicht nur Maßstäbe verändert, sondern neu definiert, was aus einem „Schulmusical“ werden kann, sodass die Bezeichnung „Schulmusical“ ungerechtfertigt wirkt; zu ausgereift ist die gesamte Kunstfertigkeit, zu radikal der geborstene Amor.

Natürlich ist dieses Musical ein Stück, das durch die künstlerische Einheit aus SchülerInnen, engagierten LehrerInnen und Externen getragen wurde, genau genommen mit kleinen Versprechern, Faux-pas, Publikumslachern und so weiter versehen. Wer allerdings in der Staatsoper einmal aufmerksam ist, dem fallen auch dort mancherlei Fehler auf.

Was heißt das denn jetzt? Was war dieses mitreißende Stück eigentlich, das wir da sahen? Es war ein umwerfendes Musical.

Und wenn man diesem Erlebnis noch etwas zusprechen sollte, dann das: So funktioniert gute Schule.

Kjell Hinz, München