Schulaustausch im 11. Jahrgang:
Nahe Ferne – 8 Tage in Estland vergehen wie im Fluge (9.-16. September 2024)
Gut 1,5 Flugstunden von Berlin in Richtung Nordosten; zuvor eine lange Bahnfahrt mit diversen Umstiegen durch die mecklenburgische und brandenburgische Provinz, auf der aber am Ende alles gut geklappt hat und dann von Tallinn noch 90 Minuten mit Kleinbussen über eine in die Jahre gekommene Autobahn nach Rakvere, schließlich über immer verschlungenere Pfade zu unserem Zielort, dem Vinni-Pajusti Gymnasium (auf Estnisch übrigens Gümnaasium). Gefühlt waren wir (zehn Schülerinnen und Schüler des 11. Jahrgangs unter der Leitung von Detlev Kraack und Lydia Rudow) – so der erste Eindruck – am Ende der Welt angekommen. Dort besuchen ca. 500 Schülerinnen und Schüler aus einer sehr ländlichen Umgebung einen Schulkoplex, der von der Grundschule bis zur gymnasialen Oberstufe alle Klassen umfasst und an der man nach 12 Jahren das estnische Abitur erwerben kann. Die Schule beginnt mit einem gemeinsamen Frühstück um 7.30 Uhr und erstreckt sich bis in den Nachmittag. Es gibt viel Sport – u. a. Discgolf, Orientierungslauf und im Winter Cross-Country-Ski durch den schuleigenen Eichenwald, den ältesten wohlgemerkt, den Estland zu bieten hat. Außerdem gibt es viel Platz, weil das Schulgebäude aus den späten 1980er Jahren ursprünglich für viel mehr Schülerinnen und Schüler konzipiert war. So ist Platz für einen Wintergarten, für technische Werkstätten, in denen man Seifenkisten und Elektromobile bastelt, für eine großzügige Mensa, tolle Spielmöglichkeiten und vieles mehr. Die ursprünglich tristen Fassaden hat man in Vinni-Pajusti übrigens mit schönen großen Bildern verziert, was der Schule eine sehr positive Ausstrahlung verleiht – Vorbild für die Prinzenstraße 8, wo für solcherlei an der neuen Turnhalle ja auch die eine oder andere triste Wandfläche zur Verfügung stünde? Oder der Gong, eine sehr positiv und heiter stimmende Melodie, mit der die Schülerinnen und Schüler zur jeweils nächsten Stunde geladen werden. Auch das könnte man bei uns mal ausprobieren. Schließlich haben die einzelnen Fächer eigene Bereiche in der Schule und dort die jeweiligen Fachlehrer Räume, die sie liebevoll zu ihren eigenen kleinen Kabinetten ausgestaltet haben, was dem Lernen sehr förderlich zu sein scheint. Gleichwohl werden natürlich wie bei uns Arbeiten und Tests geschrieben; Leistung und Disziplin gehen nicht verloren, werden aber in einer sehr netten, mitmenschlichen Art eingefordert bzw. selbstverständlich gelebt. So haben wir denn auch keine verzagten oder niedergeschlagenen Menschen in der Schule getroffen, weil man sich gegenseitig stützt und gemeinsam bewältigt, was den Einzelnen überfordern könnte. Eine schöne Schulphilosophie, die durchaus auch Leistung und Einsatz herausstreicht, etwa mit Bildern der jeweils besten Absolventinnen oder Absolventen, die in landesweiten zentralen Prüfungen ermittelt werden. Und natürlich gibt es auch Unterschiede: So haben wir im Unterricht anders als bei uns eher Lehrervorträge als Schüleraktivität und mündliche Beteiligung erlebt. Es wird nacherzählt, was die Lehrerinnen und Lehrer vermitteln; Nachfragen und Diskussionen sind dabei eher nicht vorgesehen; dass man wie bei uns mündliche Noten für die engagierte aktive Mitarbeit geben könnte, ist in diesem System nicht angelegt, was auf uns doch eher befremdlich und veraltet wirkte.
Unabhängig davon war das Logo der Schule, das in grün-weiß von den mit Eichenlaub verzierten Initialen des V(inni-)P(ajusti) G(ümnaasium) gebildet wird, allerorten präsent. Und schon auf der Fassade lasen wir unter einem großen Bild der Eule, die als Vogel der Athene für Weisheit und Bildung steht, – ins Deutsche übertragen: „Ehrlichkeit, Entschlossenheit und positive Einstellung – Bücher lesen und Dinge verstehen“. Überhaupt ist die Schulgemeinschaft stolz auf das, was hier geleistet wird. All das haben wir mit großem Interesse und offenen Augen eingesogen und nehmen es mit nach Plön.
Jenseits der vielfältigen Eindrücke, die wir in unseren jeweiligen Gastfamilien gewonnen haben, waren wir die Woche über viel mit der Gruppe in der näheren und weiteren Umgebung unterwegs. Wir sind über Bohlenwege durchs Moor gewandert, haben im Wald Beeren gesammelt (und davon blaue Zungen bekommen), haben am Strand über Feuer Würstchen und Grillkäse gebraten und es uns gutgehen lassen. Vor den Toren Narwas, unmittelbar an der russischen Grenze, haben wir mit der ehemaligen Textilfabrik Kreenholm eine der wohl größten frühmodernen Industrieanlagen der Welt besichtigt, außerdem sind wir im Gut Anjia – in Klamotten des 19. Jahrhunderts gewandet – in die Vergangenheit gereist und haben es auf diese Weise sogar mit Bild auf eine der vorderen Seiten der lokalen Zeitung geschafft. In Rakvere, der nächsten „größeren“ Stadt, gibt es übrigens eine gewaltige Burg aus dem Mittelalter, in der wir uns im Bogenschießen geübt und als Alchemisten versucht haben.
Beeindruckend fanden wir die Wasserfälle in Jögala, wo ein ganzer Fluss über eine Kalksteinstufe knapp 10 m hinabstürzt, und Valaste, wo es an einer Klippe zum Meer einen sehr imposanten Wasserfall gibt, den man über eine abenteuerliche Treppenkonstruktion durch einen Canyon erwandern kann. Überhaupt hat man das Gefühl, dass hier unendlich viel Natur auf jeden Menschen kommt, auch wenn in der Zeit der Sowjetunion etwa durch den Abbau von Ölschiefer und Phosphorit Raubbau an der Natur betrieben wurde, was bis heute in Form von Giftseen und riesigen Abraumhalden unübersehbar ist.
So blicken wir am Ende auf eine ebenso interessante wie intensive Zeit in Estland zurück; und wie immer war eine Woche auch dieses Mal wieder gefühlt viel zu kurz für den Besuch bei unseren estnischen Freunden. Zu solchen waren die Austauschpartner und Gastgeber nämlich im Handumdrehen geworden. Das lag zum einen sicher an der großen Gastfreundschaft, die man uns die gesamte Woche lang allerorten entgegenbrachte; zum anderen haben aber auch wir versucht, uns offen und unbeschwert auf dieses tolle Land und seine Menschen einzulassen. Das passte und ließ die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund treten; und so wurden am letzten Abend jenseits des offiziellen Austauschprogramms bereits Pläne für das kommende Jahr geschmiedet. Unabhängig von der Vorfreude auf den für das kommende Frühjahr geplanten Gegenbesuch der Esten bei uns in Plön sind einige aus unserer Gruppe fest entschlossen, im kommenden Sommer auf eigene Faust ins Baltikum aufzubrechen und die estnischen Freunde erneut zu besuchen. – Ein schöner Beleg für das gelebte Miteinander in einem in Freiheit vereinten Europa!
Über all dem sollte nicht verloren gehen, dass vor allem die beiden estnischen Lehrer Mart und Andrus die ganze Woche lang von morgens bis abends für unser Austauschprojekt aktiv waren und uns am Ende auch noch wieder nach Tallinn brachten. So konnten wir vor dem Rückflug nach Berlin noch einige Stunden in der Altstadt der estnischen Hauptstadt verbringen bzw. im Museum für die Freiheit und Unabhängigkeit Estlands erfahren, wie man in Estland mit den Herausforderungen der eigenen Geschichte umgeht. Dass es in der Geschichte mit der Eindeutigkeit schwierig ist, dass die Wirklichkeit vielfach eher durch Grautöne als durch klares Schwarz und Weiß geprägt ist, dass Freiheit etwas ist, das jede und jeder für sich selbst entdecken, wertschätzen und verteidigen sollte, dass Menschen aber ebenso verführbar wie verwundbar sind und dass man zwar klar Position beziehen, sich aber mit allzu raschen Verurteilungen anderer Menschen zurückhalten sollte, waren Botschaften, die einem hier auf eindringliche Art und Weise vermittelt wurden. – Eine ohne Belehrungen auskommende Lehrstunde in Geschichte!